Wir wünschen uns eine Brücke.
Auf einer gebirgigen Insel wie Teneriffa sind nicht nur die Berge ein Hindernis. Auch die vielen Schluchten trennen Menschen und Dörfer. Nachbarn, die sich leicht von Haus zu Haus unterhalten können, müssen oft lange Wege in Kauf nehmen, um sich persönlich zu treffen. Was früher eine Tagesreise in Anspruch nahm, ist heute über eine Brücke in fünf Minuten möglich.

Wir wollen endlich eine Brücke, die uns verbindet! Das wünschten sich die Einwohner von Santa Úrsula und La Victoria de Acentejo, die vierhundert Jahre lang nur durch schmale und steile Ziegenpfade verbunden waren. Schon für die spanischen Eroberer waren die Schluchten ein großes Hindernis, was die dort lebenden Guanchen zu ihrem Vorteil ausnutzen konnten. Auch die vielen Reisenden und Händler in den folgenden Jahrhunderten mussten sich über diese unbequemen Wege quälen, eine Autobahn gab es noch nicht, nicht einmal eine breite Fahrbahn für Pferdekutschen. Gerade zwischen La Victoria und Santa Úrsula verläuft eine tiefe Schlucht, die im unteren Teil Barranco Hondo heißt und sich weiter oben teilt in den Barranco de Sabujo und den Barranco de María Giménez. Die einzige Möglichkeit, die Schlucht zu überwinden, war ein schmaler Weg unterhalb einer Felswand, dort wo heute die lokale Straße TF-213 verläuft. Es erschien den damaligen Anwohnern völlig unmöglich, dass einmal Fahrzeuge oder gar Lastwagen diese Schlucht überqueren könnten. Erst im Jahr 1906 geschah das Wunder.
Zwei Ereignisse begünstigten das Wunder: eine revolutionäre Technik und das Wohlwollen des Königs.

Alles begann im Jahr 1906 mit dem offiziellen Besuch von König Alfonso XIII. auf den Kanarischen Inseln.. Die Inseln waren damals aus spanischer Sicht völlig vernachlässigt, und die Reise des Monarchen war notwendig, um nach der Katastrophe des Kubakrieges an Prestige und Popularität zu gewinnen. König Alfonso ging am 26. März in Santa Cruz auf Teneriffa an Land und wurde mit einem großen Empfang geehrt. Er war der erste König, der die Insel besuchte.
Seine Majestät kam nicht ganz alleine. Er wurde begleitet von von seiner Schwester, der Infantin Teresa und ihrem Ehemann, drei Ministern, General Pacheco, der Gräfin von Mirasol und den Markgrafen von Villamayor und San Felices, alle mit ihren jeweiligen Assistenten. Die hochrangigen Persönlichkeiten machten sich auf den Weg nach La Orotava und fuhren mit der festlich geschmückten Straßenbahn bis nach Tacoronte. In der anderen Straßenbahn, die folgte, befanden sich der Rektor der Universität von Sevilla und andere Würdenträger.

In Tacoronte stiegen sie auf Autos um. Am 28. März kam der Zug auch durch La Victoria. Hier wie überall an seinem Reiseweg versammelten sich die Menschen, schmückten Straßen und Häuser mit Blumen und errichteten Triumphbögen. Der in La Victoria befand sich an einer der Kurven, an denen die Straße nach San Clemente begann. Er bestand aus zwei hohen, starken Holzpfählen mit einem Seil dazwischen, an dem ein großer, verzierter Korb hing. Die örtlichen Würdenträger warteten am Fuß des Korbes, nervös, weil sie nicht wussten, ob die königliche Prozession anhalten oder vorbeifahren würde. Die Anwesenden begannen zu applaudieren, als die Karawane erschien. Gerade in dem Moment, als die Kutsche sich dem Bogen näherte, ließ man ein sechsjähriges Mädchen, das als Engel verkleidet war, in diesem Blumenkorb vom Bogen herab.
Das Mädchen stieg aus dem Korb, ging zu Don Alfonso und überreichte ihm, nachdem es sich vor ihm verbeugt hatte, einen Brief, in dem die Bürgermeister von La Victoria und Santa Úrsula den Monarchen baten, die so lange ersehnte Brücke über die Schlucht bauen zu lassen und die notwendigen Genehmigungen zu veranlassen.
Und das Wunder geschah. Der König sah das Mädchen an, lächelte ihm zu und strich ihr in tiefer Ergriffenheit mit der Hand über den Kopf. Er nahm das Papier an sich. Dank dieses originellen Kunstgriffs der Bürgermeister wurde der Traum der beiden Dörfer bald Wirklichkeit.
Der König erhielt während seines Aufenthalts auf Teneriffa zahllose andere Anfragen, die aber nie beantwortet wurden. Aber in diesem Fall war Alfonso XII von dem kleinen Mädchen so gerührt, dass er diesen Wunsch der Bevölkerung nicht nur zur Kenntnis nahm, sondern wenige Tage nach seiner Rückkehr nach Madrid die Regierung in einem königlichen Dekret anwies, einen Viadukt über den Barranco Hondo zu bauen, auf der so genannten zweitklassigen Straße von La Orotava nach Santa Cruz.

Nach nur drei Jahren Bauzeit wurde die Brücke, viel früher als erwartet, am 20. März 1909 eingeweiht. Die Baukosten beliefen sich auf 146 178 Pesetas. Wenige Tage später berichtete die Tageszeitung Diario de Tenerife über die Bedeutung eines Bauvorhabens, von dem man hoffte, dass es die Verlängerung der Straßenbahn bis ins Orotavatal ermöglichen würde. Ein Wunsch, der nie in Erfüllung ging: „Die Verbesserung, die endlich und nach so vielen Jahren des Wartens mit der Freigabe dieser Brücke für den Verkehr erzielt wurde, ist äußerst wichtig, nicht nur, weil sie die Entfernung verkürzt, sondern auch, weil sie die Unannehmlichkeiten und sogar die Gefahren der unendlichen Kurven der alten Straße zur Überquerung der Schlucht vermeidet, und vor allem, weil sie die Ankunft der Straßenbahn in den Dörfern des Orotava-Tals erleichtern wird“.

Die Brücke war ein echter technischer, historischer und sozialer Meilenstein. Sie war die erste Stahlbetonbrücke, die auf den Kanarischen Inseln gebaut wurde, und eine der ersten in Spanien, da die Erfindung dieser revolutionären Technik erst 1892 in Frankreich von Francois Hennebique gemacht worden war. Auf Grund der neuen Technik heißt die Brücke auch Puente de Hierro, Eisenbrücke, ihr offizieller Name ist aber Puente Alfonso XIII.
Die Schnelligkeit, mit der es in Auftrag gegeben wurde, ist auch heute noch erstaunlich. Tatsache ist auch, dass es sich um eine der wenigen Errungenschaften dieses historischen königlichen Besuchs handelte, der eigentlich nur als Propagandaaktion geplant war. Abgesehen von der Eisernen Brücke zwischen Santa Úrsula und La Victoria waren die einzigen Versprechen, die Alfonso XIII. auf seiner Reise gemacht hatte, die Überführung der Burg San Cristóbal an das Rathaus von Santa Cruz, die Kunstgewerbeschule und ein landwirtschaftlicher Betrieb.
Wie der ehemalige Bürgermeister Alfonso Fernández in seinem Buch „Geschichte einer Brücke“ ausführte, hieß das Mädchen Ana, war sechs Jahre alt, gehörte zu einer viktorianischen Familie mit dem Spitznamen „Spanier“ und war die Tochter eines „Schreibers“ im Rathaus von Santa Úrsula. Anscheinend ging das Mädchen sehr jung nach Brasilien und wurde nie wieder gesehen. Aber ihre Legende blieb bestehen.

Heutige Techniker beschreiben das Barranco-Hondo-Viadukt übereinstimmend als „ein außergewöhnliches Werk der Ingenieurskunst, innovativ und avantgardistisch“. Das Projekt wurde dem Bauingenieur José Eugenio Rivera durch königlichen Erlass vom 16. September 1907 in Auftrag gegeben. Am selben Tag wurden die Arbeiten an den Madrider Bauunternehmer Luis Gomendio Saleses und die Compañía de Construcciones Hidráulicas y Civiles zum Preis von 124.448,57 Peseten vergeben. Der Ingenieur Rivera entschied sich für den Bau eines einzigen Bogens, um Schwierigkeiten bei den Fundamenten zu vermeiden, die durch die Beschaffenheit des Geländes mit seinen vulkanischen Schlacken bedingt waren.

Die Brücke ist 83,20 m lang und hat eine maximale Tiefe von 32,20 m bis zur Schlucht. Die Fahrbahnbreite beträgt 5,5 m, zuzüglich zweier seitlicher Plattformen für Fußgänger von 65 cm. Genau so ist sie heute noch erhalten. Für den modernen Verkehr ist die Breite der Fahrbahn aber etwas knapp. Busse oder Lastwagen zwingen den entgegenkommenden Verkehr zum Anhalten oder Zurücksetzen. Würde es die Autobahnbrücke weiter unten nicht geben, wäre die Brücke Alfonso XIII bei dem heutigen Verkehr allerdings hoffnungslos überfordert. Dort überqueren zigtausend Fahrzeuge täglich die Schlucht (in der Karte rot).
Im Jahr 1970 ging es auf der Brücke noch sehr gemütlich zu:


Auf der Westseite mussten die Ingenieure noch ein weiteres Hindernis überwinden und eine tiefe Bresche in den Hügel schlagen. Dort verläuft die Straße in einer Kurve zwischen 20 Meter hohen, senkrechten Felswänden.
Wegen seiner innovativen Konstruktion wurde das Bauwerk in allen technischen Abhandlungen der damaligen Zeit als Rivera-System bezeichnet. Der Vorbildcharakter des Werks spiegelt sich auch in einem maßstabsgetreuen Modell in der ehemaligen Ingenieurschule für Bauwesen in Madrid wider. Mehr als ein Jahrhundert später sind die Pfeiler und die Struktur der Brücke des Königs immer noch in perfektem Zustand, sie wurde aber Anfang der 1980er Jahre einer umfassenden Renovierung unterzogen.
Zahlreiche andere Brücken auf Teneriffa wurden später nach dem gleichen System gebaut. Man findet viele davon z.B. an der TF-28 in den unzähligen Barrancos von Güímar, Fasnia oder Arico.

Die Geschichte der Königsbrücke hat leider auch ein tragisches Kapitel, denn „seit ihrem Bestehen ist die Brücke Zeuge von Selbstmord und traurigem Tod geworden. Es gibt mehr als 20 Fälle“. Der ehemalige Bürgermeister von La Victoria, Manuel Correa, weist darauf hin, dass es bereits 1911 den ersten Selbstmord eines Mannes namens Claudio González gab, der Jahre später von seinem Enkel wiederholt wurde. Die meisten Fälle stimmen in einem Detail überein: Die Sprünge ins Leere sind immer auf derselben Seite, nämlich der Talseite. Es gibt etwa zwanzig Geschichten von zwischenmenschlichen Konflikten, wirtschaftlichen Nöten oder gesundheitlichen Problemen.
Oft ging es dabei auch um Liebe und Herzschmerz, wie bei Maria, einer jungen Frau, die, schwanger von ihrem Freund, die Ablehnung ihrer Eltern spürt, die eine solche Schande nicht dulden würden, und sich eines Tages ins Leere stürzt. Der 20-jährige Adam hingegen überlebte 2003 wie durch ein Wunder, weil er nach einem Sturz aus 20 Metern Höhe in den Brombeeren landete. Er war nicht der einzige, der vom Gebüsch gerettet wurde. Die junge Teresita, die sich am 27. März 2004 in die Tiefe stürzte, betete zuvor am Kreuz der Brücke. Am 14. Januar 2019 sprang ein Mann in den Tod, seine Identität wurde nie geklärt. Der Volksmund erzählt auch die Geschichte von zwei Pfarrern, die sich wegen einer Geliebten in die Tiefe sprangen.
So hat die Brücke, die die Nachbarn verbindet, nicht nur eine spannende Geschichte, sondern eine Vielzahl von Geschichten zu erzählen.
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Übrigens: Kurz vor der Brücke empfiehlt sich das Restaurant La Cuevita: Hervorragende kanarische Kost, sehr günstige Preise, und man speist in einer Höhle.


Unterhalb der Autobahnbrücke kannst du eine Wanderung in der Schlucht machen: Barranco Hondo.
Und weiter oben gibt es den Zwei Schluchten-Weg.
Artikel-Nr. 20-0BEC384D
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