Hundertjährige Ecken

Kaum beachtete Stadtelemente in La Orotava.

Die historische und denkmalgeschützte Stadt La Orotava, gegründet vor mehr als 500 Jahren, besitzt in ihrer Altstadt, die zu den am besten erhaltenen des Archipels zählt, zahlreiche und vielfältige Kulturschätze. Einige sind groß und bekannt, wie die Kirche La Concepción, ein Juwel des kanarischen Barocks, und andere sind kleiner und schlichter und bleiben unbemerkt von Einheimischen und Besuchern, inmitten einer Stadt, die versucht, zu wachsen und sich zu modernisieren, ohne dabei ihre Identität und das alte und herrschaftliche Wesen zu verlieren, das sie seit jeher auszeichnet.

Eines dieser kleinen und wenig bekannten, einzigartigen Elemente, die es heute auf der Insel Teneriffa fast nur noch in La Orotava gibt, sind die Eckpfeiler, die so genannten guardesquinas oder guardacantones, hölzerne Schutzvorrichtungen, die an den Ecken der Häuser angebracht wurden. Im historischen Zentrum von Orotava fand man sie bis vor kurzem nur noch an fünf Stellen.

Eines davon, das sich in der Calle Tomás Zerolo Nr. 18 an der Ecke zur Gasse Ascanio befindet, wurde in der Nacht eines „Baile de magos“, des Patronatsfestes, von Vandalen abgerissen. Dieses umfangreiche Fest endet in der Regel in einer langen Nacht der Exzesse und Ausschweifungen, in der das Stadtmobiliar mehrfach beschädigt wird, ganz zu schweigen von den unangenehmen Urinströmen, von denen auch das Erdgeschoss, Türen und Tore nicht verschont bleiben. Dies ist die schwarze Seite jeder großen Fiesta, wie die von San Isidro und Corpus Christi.

Glücklicherweise fanden die Eigentümer des Hauses Tomás Zerolo 18 den abgerissenen Eckschutz, der etwa einen Meter lang ist, und werden ihn nach einer ordnungsgemäßen Restaurierung wieder an seinem Platz anbringen können, da es sich um ein gut verarbeitetes und verziertes Stück Holz handelt.

Die kuriosen „Eckenwächter“ sind nur bescheidene dekorative Elemente, sie haben es aber durchaus verdient, genauer untersucht und geschützt zu werden, da einige von ihnen mehr als 300 Jahre alt sind.
Fernando Gabriel Martín, Professor für Kunstgeschichte an der Universität von La Laguna, weist in seinem Buch Arquitectura doméstica canaria darauf hin, dass es sich um „Bauteile handelt, die bereits in Kastilien während der Renaissance in Städten wie Valladolid verwendet wurden. Sie sind auch in Kuba zu finden, wo sie im Gegensatz zu den kanarischen mit Pflanzenmotiven verziert sind.“

Auch in La Laguna kann man die Eckenwächter noch an einigen Stellen entdecken.

Der Historiker Sebastián Hernández Gutiérrez aus La Orotava, ehemaliger Professor für Kunstgeschichte an der Universität von Las Palmas, erwähnt die Eckschutzelemente in einer seiner zahlreichen Veröffentlichungen über das Kulturerbe von La Orotava. „Die Besitzer vieler Gebäude in dieser Stadt, vor allem derjenigen, die sich auf Eckgrundstücken befanden, entschieden sich im 18. und 19. Jahrhundert dafür, einen Holzbalken anzubringen, um die Ecken ihrer Häuser vor den Schlägen der Achsen und Räder der Fuhrwerke zu schützen, die beim Wenden ständig an den Ecken scheuerten“. Dies geschah damals leicht, da viele der Straßen der Stadt schon immer sehr steil waren und außerdem der Boden mit Kopfsteinpflaster gepflastert war, so dass die Räder der beladenen Wagen oft ins Schleudern gerieten, besonders an Regentagen. Viele Häuser verstärkten deshalb ihre Ecken auch mit besonders massiven Steinblöcken. In La Orotava waren sie aber in der Regel aus Holz.
Die Technik der Eckenschützer wurde sicher auch nach Lateinamerika exportiert, wie dieses Video aus Guatemala zeigt:

Durch diese Straßen, wie Tomás Zerolo oder del Agua, fuhren vor Jahrhunderten die mit Weinfässern beladenen Karren hinunter zum Hafen von La Orotava, dem heutigen Puerto de la Cruz, um den Wein nach England oder sogar nach Amerika zu verschiffen. Die Weine des Orotava-Tals, insbesondere der Malvasia, der sogar von William Shakespeare in einigen seiner Werke erwähnt wurde, waren in halb Europa bekannt und hoch geschätzt, und ihr Handel brachte den Grundbesitzern von La Orotava und der Gemeinde im Allgemeinen großen Reichtum. Sogar der Bau der Kirche La Concepción wurde zu einem großen Teil durch den Weinhandel mit Amerika finanziert.

Im historischen Zentrum von La Orotava sollten eigentlich fünf dieser Eckwächter erhalten sein, die nach der Definition von Professor Hernández „Elemente von denkmalpflegerischem Interesse“ sind, die in vergangenen Zeiten zur öffentlichen Ausschmückung dienten. Sie haben eine gemeinsame Typologie: ein Holzstück in Form einer kleinen Säule, die in die Wand eingelassen und mit einer Kugel gekrönt ist. Sie sind zwischen einem und zwei Metern groß.

Eine befindet sich in der Calle Doctor Domingo González Nr. 1, an der Einmündung in die Calle Salazar, direkt vor der beliebten Gofio-Mühle Chano. Sie ist einfach und schmucklos, aber mit einer Länge von etwa zwei Metern die größte. Sie befindet sich in einem Gebäude von großem historischem Wert, einem guten Beispiel kanarischer Wohnarchitektur, dem Haus González García, das Ende des 18. Jahrhunderts erbaut wurde und in dem im 20. Jahrhundert der berühmte Arzt Domingo González García lebte, nach dem die Straße benannt ist.

Ganz in der Nähe gibt es einen weiteren Eckpfeiler, in Richtung Cruz del Teide, an der Nummer 31 der gleichen Straße Salazar, an der Ecke mit der Calle Claudio. Er ist viel kleiner und ebenfalls einfach, aber noch gut erhalten.

Einer der elegantesten und kunstvollsten ist der an der Nummer 3 der Calle León, an der Ecke zur Calle San Agustín, in der Nähe der Plaza de la Constitución oder des Kiosco-Platzes. Er schützt die Ecke eines großen Gebäudes aus dem 19. Jahrhundert mit klassizistischem Einfluss, das neben verschiedenen kommerziellen Zwecken auch das Museum Tafuriaste beherbergte. Leider ist dieser Eckpfeiler im Wintern 2024 herausgerissen worden, als ein Fahrzeug auf den regennassen Pflastersteinen in Rutschen kam, auf den Bürgersteig fuhr und die Ecke mitgenommen hat. Zum Glück konnte man den Eckenwächter retten und wieder neu befestigen.

In der Calle Tomás Zerolo, in der Hausnummer 18, einem Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert, befand sich die bereits erwähnte Eckwache, die während der Fiesta verwüstet wurde, kleiner und dicker als die anderen, aber gut dekoriert und elegant.
So sind innerhalb eines Jahres zwei der hundertjährigen Ecken zerstört worden.

Am Ende derselben Calle del Agua, an der Ecke mit der Calle Viera, in der historischen Casa de Mesa, gegenüber der Kirche Santo Domingo, ist der fünfte Eckpfosten erhalten, groß (etwa eineinhalb Meter), wenn auch rauer und einfacher, ohne Kugel am oberen Ende, wahrscheinlich weil er der älteste von allen ist. An diesem, wie auch an dem anderen, größeren in der Calle Doctor Domingo González, kann man die riesigen Nägel sehen, mit denen sie an der Wand befestigt sind. Die Casa de Mesa stammt aus dem 16. Jahrhundert und war die Residenz des Konquistadors Diego de Mesa. Es ist eines der ältesten Baudenkmäler in La Orotava mit einer bemerkenswerten Mauerwerksfassade im plateresken Stil, die von kannelierten korinthischen Säulen flankiert wird.

So ist die Altstadt von La Orotava ein wunderschönes städtisches Schmuckkästchen, das eine Vielzahl kleiner und großer historisch-künstlerischer Juwelen birgt, von denen viele in der modernen Stadt versteckt sind, wie zum Beispiel diese kuriosen Eckenwächter, die es wert sind, als öffentliches Erbe, das allen Einwohnern gehört, entdeckt, kennengelernt und gepflegt zu werden.

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