E 120

Das Rot der Könige.

    Ein Fremdling beherrscht in vielen Teilen der Insel das Landschaftsbild. Der Opuntien-Kaktus gilt als typische Pflanze in den Trockengebieten, aber er gehört eigentlich nicht hierher. Doch er war Voraussetzung für ein kleines Tierchen, das zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor im 19. Jahrhundert wurde: Die Cochenille Laus liefert früher wie heute den bedeutenden Farbstoff Karmin.

    Das Unternehmen Canaturex mit Sitz in Las Palmas hat sich auf die Gewinnung natürlicher Farbstoffe aus der traditionellen Verarbeitung der Cochenille-Laus (Dactylopius coccus costa) spezialisiert und unterhält internationale Handelsbeziehungen mit Abnehmern in der Pharma-, Textil- und Lebensmittelindustrie. Der begehrte rote Farbstoff ist das Karmin, dessen Hauptbestandteil die Karminsäure (C22H20O13) ist. In der Europäischen Union ist das Karmin unter der offiziellen Bezeichnung E 120 zu deklarieren. Da es ungiftig und natürlich ist, wird es in der Industrie als Farbstoff für eine Vielzahl von Produkten verwendet: Kosmetika, Lebensmittel, Textilien, Weine usw., und liefert bei geeigneter Verarbeitung eine breite Palette von Farben: violett, orange, rot, grau und schwarz.

    Das pure Karmin hat den Farbcode . Praktisch alles was rot ist, enthält Karmin, und wir nehmen es praktisch jeden Tag zu uns. Es darf für Konserven von roten Früchten, Käse, Fischrogen-Imitate, Brotaufstriche, Wurst und Fleischzubereitungen, Fisch und Krebstiere, und aromatisierte Getränke (z. B. Campari) verwendet werden. Je nach Anwendung liegt die zulässige Höchstmenge zwischen 50 und 250 mg/kg. Für spezielle Anwendungen, wie essbare Wurstumhüllungen, gibt es keine Mengenbegrenzungen. Lebensmittel und andere Produkte, die Karmin enthalten, sind aber inakzeptabel für Vegetarier und Veganer, da es ja aus Tieren gewonnenen wird.

    Medikamente, die rot aussehen sollen, enthalten Karmin, ebenso wie Lippenstifte oder Malerfarben, und nicht zu vergessen die roten Roben der Kardinäle oder Könige. Schon die Azteken maßen dem speziellen Rot eine besondere Bedeutung zu, sie assoziierten die Farbe mit Sonne, Blut und Tod. Die Technik der Farbherstellung war in Mexiko mindestens seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. bekannt, wurde aber auch in den Bergen von Peru, Bolivien und Ecuador praktiziert, und das Karmin wurde zum Färben von rituellen und zeremoniellen herrschaftlichen Textilien in Peru und Mexiko und als Tributzahlung an die Herrscher verwendet. Für den Handel mit Cochenilleschildläusen existierte bereits in vorkolumbianischer Zeit ein weites Handelsnetzwerk in Mittelamerika.

    Von dort kamen sowohl die Läuse als auch ihre Wirtspflanzen, die Opuntien, auf die Kanaren, wenngleich die spanischen Konquistadoren zunächst den kommerziellen Wert übersahen. Erst ab 1540, als auch geschäftstüchtige Kaufleute nach Amerika kamen, wurden kleinere Mengen exportiert. In Spanien war aber die Nachfrage gering, denn nur der Königshof konnte sich den teuren Stoff leisten, und die Verarbeitungstechniken waren begrenzt. So waren es italienische Färbergilden in Venedig, die die Produktion des Farbstoffs und die Herstellung von Textilien verfeinerten.

    Erst Ende des 16. Jahrhunderts entwickelte sich ein Markt für getrocknete Cochenille-Läuse. Sowohl Kaufleute als auch Regierungsangestellte vergaben Kredite an mittelamerikanische Indios, um den Anbau und die Zucht zu fördern. Ab dem 17. Jahrhundert wurde der Farbstoff dann nicht nur für Textilien verwendet, sondern auch für Kosmetika, Medikamente und taucht in den Farbtöpfen berühmter Maler auf.

    Nachdem in vielen Zonen der Kanaren ähnliche Klimabedingungen herrschen wie im mexikanischen Hochland, konnten auch hier die Opuntien angebaut werden, allerdings viele Jahre später, etwa ab 1850, nach der Unabhängigkeit Mexikos. Ein wichtiger Grund war auch der Aufschwung der Textilindustrie in England und die dadurch steigende Nachfrage nach Farbstoffen. So lieferten die Opuntien nicht nur vitaminreiche Früchte. Die Zucht der Cochenille-Läuse wurde zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. Im Jahr 1870 wurden auf den Kanarischen Inseln sechs Millionen Pfund (ein Pfund = 0,454 kg) für den englischen und französischen Markt produziert. Diese Phase dauerte kaum 20 Jahre, da die Einführung synthetischer Farbstoffe (Aniline) im Jahr 1880 die Nachfrage und die Preise sinken ließ. Der darauf folgende Einbruch des wichtigsten Exportproduktes führte zu einer Auswanderungswelle von Tausenden von Menschen. Heute sind nur noch die Dörfer Guatiza und Mala auf Lanzarote die Zentren der Läuseproduktion.

    Nachdem bei den künstlichen Anilin-Farbstoffen der Verdacht auf gesundheitliche Schäden aufkam, kommt der Herstellung des natürlichen Farbstoffes Karmin wieder eine größere Bedeutung zu. Das Institut für Lebensmittelqualität in Santa Cruz (Instituto Canario de Calidad Agroalimentaria, ICCA) hat im Jahr 2016 auch eine geschützte Herkunftsbezeichnung (DOP) eingeführt. Nach Angaben des Statistischen Instituts der Kanarischen Inseln (ISTAC) gibt es auf den Inseln derzeit 154 Hektar Kaktusfeigen-Plantagen. Dies sind jedoch nur die offiziellen und wirtschaftlich genutzten, denn in den trockenen Gebieten wachsen sie ja praktisch hinter jeder Hütte. Es gibt 27 verschiedene Opuntienarten, von denen zwei als invasorisch gelten, darunter auch die „tunera común“ (Opuntia maxima oder Opuntia ficus-indica), die sich für die Läusezucht eignet.

    Trotzdem kann nicht jeder Bauer das Karmin herstellen, denn die Verarbeitung ist kompliziert. Nach der Pflanzung der Opuntien dauert es etwa drei Jahre, bis die Läuse auf die jungen, fleischigen Blätter (pencas, palas, in Mexiko auch nopales) ausgebracht werden können. Die Weibchen sind weiß oder grau und etwa 6 mm groß und sondern zu ihrem eigenen Schutz ein weißes, wachsartiges Polster ab, das wie Watte aussieht. Die Männchen sind deutlich kleiner. Sie bringen pro Jahr etwa fünf Generationen hervor. Nach wenigen Wochen werden sie mit löffelartigen Werkzeugen oder Bürsten vom Blatt abgeschabt, früher verwendete man auch Federn. Die Ernte erfolgt am frühen Morgen oder bei kühlem Wetter.

    Nur die weiblichen Läuse enthalten den Farbstoff, er soll eigentlich ein Schutz vor Fressfeinden sein. Sie werden zuerst mit Essig gewaschen und in der Sonne oder in Öfen getrocknet, dann werden sie in Wasser unter Zusatz von etwas Schwefelsäure ausgekocht. Zur Verlackung wird die Karminsäure anschließend unter Anwendung von Alaun und etwas Kalk ausgefällt, ausgewaschen und wieder getrocknet. Dann kann das Karmin als Pigment verwendet werden. Ein Kilogramm getrocknete Cochenilleschildläuse ergeben ca. 50 Gramm Karmin. Dafür benötigt man etwa 60.000 bis 100.000 Läuse.

    Kompliziert wurde die Sache etwa ab dem Jahr 2010, als eine andere Art der Cochenillelaus auf die Kanaren kam, zuerst nach La Palma und Teneriffa. Die wilde mexikanische Cochenille (Dactylopius opuntiae) gilt als Schädling, denn sie kann auf dem Feigenkaktus Chlorose und Nekrose an den Stängeln und Früchten sowie das Absterben der Pflanze verursachen.

    Aus diesem Grund fordert das Landwirtschaftsministerium die Betreiber von Kaktusplantagen auf, Pflanzenschutzmaßnahmen zur Bekämpfung dieser Art zu ergreifen, wie z.B. die Vernichtung des befallenen Pflanzenmaterials „in situ“. Schon 2018 wurde dem Kanarischen Parlament eine Petition vorgelegt, etwas gegen die Plage zu unternehmen. Es sind aber keine Maßnahmen erfolgt.

    Die offizielle Einstufung im Jahr 2023 als Ungezieferplage kam erst 13 Jahre nach ihrem Auftauchen. Seit diesem Jahr wurde sie auch auf Gran Canaria beobachtet. Äußerlich ist sie leicht von der „guten“ Laus zu unterscheiden, denn sie lebt unter einem dichten Gespinst von weißen Fäden. Nur auf Lanzarote konnte man den Schädling gut kontrollieren, da es außerhalb der Plantagen keine wilden Opuntien gibt.

    Doch nun sieht man sich in der Zwickmühle. Denn einerseits dezimiert die mexikanische Schildlaus die Opuntien, die ja eine invasorische Art sind und andere einheimische Pflanzen verdrängen. So müsste man eigentlich gar nichts unternehmen. Aber gleichzeitig ist damit die wirtschaftliche Nutzung der Kakteen in Gefahr, sei es für das E 120 oder die leckeren Kaktusfeigen.

    Wer beim Wandern eine Läusekolonie auf einer Opuntie sieht, kann ganz leicht feststellen, ob die Tiere den Farbstoff enthalten. Zerquetscht man die Laus zwischen den Fingern, kommt eine leuchtend rote Flüssigkeit zutage. Keine Sorge, mit Wasser kann man die Farbe leicht wieder abwaschen, und sie ist völlig ungiftig.

    Gefährlicher sind die Früchte (chumbos) der Feigenkakteen (chumberas), die man nur mit Handschuhen anfassen sollte. Sie haben böse Stacheln mit winzigen Widerhaken, die schmerzhaft und lange in der Haut bleiben. Auf dem Markt gibt es die leckeren Früchte aber auch schon von den Stacheln befreit zu kaufen. Wer die Früchte selbst sammelt, kann mit der gebotenen Vorsicht leckeres Feigenmus genießen oder Marmelade kochen.

    Die gesundheitlichen Vorteile der Kaktusfrüchte sind auf den Inseln schon lange bekannt. Seit einigen Jahren produziert und vermarktet das Unternehmen Ledesma Global S.L. das Nahrungsergänzungsmittel Higo Tinto unter dem Markennamen TunoCanarias. Es begann mit dem getrockneten Pulver aus den roten Feigen, das wissenschaftlich als außergewöhnliches Antioxidans anerkannt ist und zur Regulierung des Cholesterin- und Glukosespiegels beiträgt.

    Heute wird das Sortiment erweitert um innovative Formeln, die die roten Feigen mit Kollagen, Probiotika und anderen funktionellen Inhaltsstoffen kombinieren. Die Produkte sind auch als praktische Kapseln erhältlich. Rot müssen sie natürlich alle sein. So kann man etwas für die Gesundheit tun und sich gleichzeitig ein bisschen wie ein König fühlen.



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