Überleben am Rand der Gesellschaft

Er heißt Erasmo, aber niemand kennt seinen Nachnamen. Er lebt schon immer im Wald, so lange er denken kann, oberhalb von Agua García, im Gebiet von La Hornaca, dort oben im Lorbeerwald, wo es das ganze Jahr über immer wolkig und nass ist. Sein Haus ist ein verlassener Geräteschuppen, feucht und dunkel, ohne fließendes Wasser, ohne Strom und ohne Heizung. Aber Erasmo hat überlebt.

Einige Nachbarn erinnern sich, dass er als junger Mann Holzkohlenreste sammelte und Stöcke schnitt. Heute sammelt er Zigarettenschachteln, die meisten von derselben Marke, die er sorgfältig in einer Ecke seines Zimmers stapelt, als gehörten sie zu einem wertvollen Schatz. Das bisschen Abfall, das er produziert, stapelt er in der anderen Ecke.
Erasmo wäscht sich an einer versteckten Quelle im Wald und ernährt sich von dem was er dort findet. Er röstet Kastanien und sammelt Obst in verlassenen Gärten in der Nähe oder sucht in den Abfalltonnen im Dorf nach etwas Essbarem. Die Ausgangssperre während der Corona-Krise trifft ihn besonders, denn nun kommen keine Ausflügler mehr aus dem Dorf zum Picknickplatz, die ihm seither ab und zu etwas schenkten.


Man weiß nicht, ob er eine Familie hat und auch nicht sein Alter, einen Ausweis besitzt er nicht. Zwischen 60 und 70 könnte er sein. Er selbst weiß es auch nicht. „Sag du es mir“, sagte er mal zu Dácil, einer Nachbarin aus Barranco Las Lajas. Sie und ihre Familie sind eine der wenigen Personen, zu denen er Beziehungen hat. Als sie ihn zum ersten Mal sah, war sie 10 Jahre alt, und sie bekam Angst. Sie war mit ihrer Mutter in der Gegend unterwegs, in der sie vor kurzem ein Haus gekauft hatten. Beim zweiten Mal, als sie sich trafen, war alles anders, und er begrüßte sie bereits. Sein Tonfall erweckte den Eindruck, dass er ein guter Mensch ist und nicht gefürchtet werden muss. Im Gegenteil, so Dácil, „im Laufe der Jahre ging ich immer öfter zu ihm, fragte ihn und erkundigte mich, weil er ein sehr netter Mann war“.

Deshalb machte sie sich Sorgen um ihn, als im März 2020 der Alarmzustand ausgerufen wurde, ein Monat, in dem es auch unaufhörlich regnete, was sie daran hinderte, zu Erasmo zu gehen, um zu sehen, wie es ihm ging und ob er etwas brauchte. Als wieder einmal die Sonne schien, nutzte sie die Gelegenheit, mit dem Hund spazieren zu gehen, und fand ihn. Sie versuchte, ihm zu erklären, dass es einen Virus gäbe, dass es den Menschen verboten sei, ihr Haus zu verlassen, und sie empfahl ihm, dies nicht zu tun, sondern im Wald zu bleiben. „Ich bin ins Dorf gegangen und es ist niemand da. Was ist mit allen passiert?“, fragte er seine Freundin.
Als Dácil nach einigen Tagen wieder hinaus gehen konnte, brachte sie ihm Decken, Handtücher, eine Bettdecke, einige Kleider, eine Schüssel, Wasser, Besteck und Essen für zwei oder drei Tage. Begleitet wurde sie von ihren Kindern Guillermo und Adar, 12 bzw. 14 Jahre alt, die unter großen Anstrengungen ein Bettgestell und eine Matratze den Berg hinauf trugen. Etwas, was Erasmo seither nicht hatte. Doch Dácils Sorge ist, dass dies nicht ausreicht. „Erasmo braucht soziale und gesundheitliche Unterstützung“, schrieb der örtliche Journalist Enrique Acosta auf seiner Facebook-Pinnwand, als er von der Geste der Solidarität der Familie erfuhr.


An jenem Samstag, als die Ausgangsbeschränkungen wieder erleichtert wurden, machte sich Dácil und seine Kinder in Begleitung von Journalisten des ‚Diario de Avisos‘ auf der Suche nach Erasmus. Zuvor hatten sie ihm Säcke gebracht und den ganzen Müll, den sie fanden, eingesammelt. Sechs Säcke voller Müll, davon die Hälfte voller Zigarettenkippen. Außerdem reinigten sie den Raum unter Anwendung aller Sicherheitsvorkehrungen, mit Masken und Handschuhen. Sie hatten ihn nicht gefunden, weil er sich oft im Gebüsch versteckt, wenn er Geräusche hört oder Menschen sieht, die er nicht kennt. In der Hütte hing sein Umhang aus La Esperanza, eine Tatsache, die Dácil beunruhigte, weil er ihn normalerweise nie ablegt, obwohl er nach all den Jahren schon so abgenutzt ist. Eines von Dácils Zielen ist es, ihm einen neuen Umhang zu besorgen, der ihn vor der Kälte im Nebelwald schützt.

Sie hat Angst, dass er wieder in ein Seniorenzentrum gebracht wird, denn er hatte Dácil gegenüber gestanden: „Hier in den Bergen schade ich doch niemandem“, sagte er. Offenbar hatte man einmal versucht, ihn dazu zu bewegen, an einem anderen Ort zu leben. Aber er weiß nicht, wann und wohin er gegangen ist. Erasmo ist in der Zeit stehen geblieben, sein Leben ist ein Rätsel. Man erzählt sich, dass er bei seiner Geburt als Mädchen registriert wurde, um den Militärdienst zu vermeiden. „Das Letzte, was er über die Gesellschaft weiß, ist, dass alle zum Militär und zur Armee gehen mussten“, sagt Guillermo. „Er weiß nicht, dass sich das Leben verändert hat oder dass wir das Jahr 2020 haben.“
Alle Nachbarn der Gegend wollen, dass Erasmus in den Bergen bleibt, aber es wird der Tag kommen, an dem er aufgrund seines Alters nicht mehr dort bleiben kann, sagt Dácil. So bittet sie darum, dass „zumindest einmal im Monat jemand hingehen sollte, um nachzusehen, ob er lebt, Hunger hat, friert oder ob wir ihm helfen sollten, sein Zimmer aufzuräumen. Man sollte ihm helfen und zusammenarbeiten.“

Wenn man mit ihm spricht, sieht man, dass er „bis zu einem gewissen Grad an Demenz“ leidet, aber er versteht ganz genau alles, was ihm die Menschen sagen, mit denen er Kontakt hat. Er löscht auch konsequent seine Zigarettenstummel und sammelt sie in Tüten, genau so wie den restlichen Müll, den er ein einer Ecke seines Zimmers anhäuft.
Dácil sagt, dass Erasmus sehr höflich ist und viele Geschichten erzählen kann. Ihre übliche Frage ist, wie es ihm geht und ob er etwas zu essen hat, aber er antwortet immer, dass er nichts braucht. Aber sie sehen oft, wenn sie seine Hütte betreten, dass er nichts hat, und bringen ihm dann etwas zu essen. Um zu verhindern, dass die Ratten dran gehen, wickeln sie es in kleine Stoffpäckchen, die sie an die Bäumen hängen.

Erasmo ist ein Überlebender aus einer anderen Zeit. Er antwortet immer mit einem freundlichen Gruß, da er weiß, dass diejenigen, die ihn im Wald treffen, bei seinem Anblick erschrecken können. Man sieht ihn immer mit seinem Umhang auf dem Rücken umherwandern, seinem treuen Begleiter. Seine braunen Augen verraten Traurigkeit, aber keinen Hass oder Groll. Er ist einfach von der Gesellschaft vergessen worden.
Erasmo, der nirgendwo anders als im Wald zu leben weiß, weil er schon immer ein Teil davon war, ist ein einzigartiger, bewundernswerter Mensch. Aber das gilt auch für Dácil und ihre Kinder, die dorthin gehen, wohin die Institutionen nicht gehen wollten oder konnten, zumindest bis jetzt. Und für Enrique Acosta, weil er eine Geschichte gerettet hat, die ein großer Teil von Tacoronte kannte, die aber bis jetzt am Berg von Agua García im Nebelwald verborgen blieb.
Hier erfährst du etwas über den Umhang, den Erasmo mit sich trägt. Er schützt ihr vor Kälte und Nässe: Hält warm und trocken.
Quelle und Bilder: Diario de Avisos und Enrique Acosta
Hier findest du eine Rundwanderung im Lorbeerwald von Agua García, dem ältesten Wald der Insel: Märchenwald. Erasmo wird sich wahrscheinlich verstecken, wenn du in seinem Reich herumschleichst.
Artikel-Nr. 29-3-168
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