
Als Mihail Gorbatschow 1990 zum ersten Mal Spanien besuchte, sagte er in seiner offiziellen Rede: „Ich komme in ein Spanien, in dem der berühmteste Kollaborateur geboren wurde, den Russland je hatte: Agustín de Betancourt….“
Die hohen Beamten, die ihn empfingen, sahen sich an und fragten sich, wer zum Teufel dieser Betancourt war.… Anscheinend erinnerte sich jemand daran, dass es eine Straße mit diesem Namen gab, aber keiner von ihnen wusste, von wem der sowjetische Präsident sprach.

Eine Calle Agustín de Betancourt gibt es in Madrid, in Las Palmas und in La Orotava. In seiner Geburtsstadt Puerto de la Cruz gibt es nicht nur eine Schule und eine Straße Agustín de Betancourt, sondern sogar eine Avenida Familia Betancourt y Molina. Im Jahr 2018 erinnerte man sich an ihn gleich mehrfach. Puerto de la Cruz ernannte ihn im Februar zum Ehrenbürger, der Cabildo verlieh ihm im Oktober den Titel „Illustrer Sohn von Teneriffa“.



(Russische Briefmarke, *1)
St. Petersburg? Madrid? Teneriffa? Wer ist denn nun dieser berühmte Mann, dem mehr als 250 Jahre nach seinem Geburtstag so viel Ehre zuteil wird?
Gestorben ist Agustín de Betancourt am 26. Juli 1824 in St. Petersburg, dort befindet sich sein Grab im Kloster Aleksandr Nevski, direkt neben dem Grab des berühmten Mathematikers Leonhard Euler. 16 Jahre lebte er in Russland. Am Hof des Zaren Alexander I. war er Marschall der russischen Armee und Direktor der Abteilung für Kommunikationswege.

Er prägte das russische Ingenieurwesen durch zahlreiche öffentliche Bauten und Projekte, vor allem in Sankt Petersburg, wie die Brücke über die Kleine Newa, die Waffenschmiede in Tula, die Kanonenfabrik in Kasan, die Messehalle in Nischni Nowgorod und die dortige Kathedrale, die russische Banknotendruckerei einschließlich der Druckmaschinen für Geldscheine. Das erste Papiergeld in Russland wurde von einem Tinerfeño erfunden! Er entwarf die Große Manege in Moskau, modernisierte die Dampfschifffahrt auf der Wolga, leitete Wasserversorgungssysteme in die Wege und regte den Bau von neuen Eisenbahnlinien an.

Spanien verließ er im Jahr 1807, wo er in Madrid die Ingenieurschule für Straßen und Kanäle gegründet hatte und fünf Jahre lang Direktor der Polytechnischen Universität war. Davor lebte er einige Jahre in England, wo er viele seiner theoretischen Kenntnisse an Beispielen aus der Praxis umsetzten konnte. Dort beobachtete er die Doppeleffekt-Dampfmaschine, deren Geheimnis die Engländer gut versteckt hielten. Doch später veröffentlichte Betancourt in Paris einen Artikel zum Thema der Steigerung des Wirkungsgrades bei Dampfmaschinen (Mémoire sur une machine a vapeur a double effet), und machte so seine Erkenntnisse der europäischen Ingenieurwelt zugänglich. Er erfand er einen Unterwasser-Rasenmäher, verbesserte Bagger und Getriebe für Mühlen und begann seine Arbeiten über optische Telegrafie. Im Jahr 1800 wurde unter seiner technischen Leitung die erste Telegrafenlinie zwischen Madrid und Cádiz eingerichtet.




(Fotos: *2, *3)
Agustín de Betancourt war nicht nur ein überragender Techniker und genialer Ingenieur, er konnte sich auch in den wichtigsten Sprachen fließend ausdrücken. Er hatte in Madrid Physik und Mathematik studiert, Differential- und Integralrechnung, Kurventheorie und analytische Mechanik. Bei seinem mehrjährigen Aufenthalt in Paris ab 1784 erweiterte er seine Kenntnisse in Geometrie, Architektur, Chemie, Geologie und Metalltechnik. Die unterirdischen Kanäle in Paris, eine Technik zur Beschleunigung der Schleusen, Grundgesetze der Thermodynamik, es gab kein wissenschaftliches Arbeitsgebiet, in dem er nicht mit fundamentalen Erkenntnisse vertreten war.
Das Stipendium von 1500 Reales pro Monat und die wissenschaftliche Anerkennung bekam er am 29. November 1783 in Madrid, als er den königlichen Hof mit dem ersten Start eines Heißluftballons verblüffte, aus „lackiertem Taft“ und „sieben Fuß Durchmesser“, der unter seiner Leitung hergestellt wurde. Als der Ballon in den Wolken verschwand, zog sogar der König den Hut. Dabei waren hochrangige Persönlichkeiten der damaligen Gesellschaft anwesend, unter anderem der berühmte Naturforscher Viera y Clavijo. (Hier ist die Geschichte von Viera y Clavijo: Die Hochzeiten der Pflanzen)


(Foto: *4)
Damals war er erst 25 Jahre alt. Aber schon mit 18 Jahren hatte er zusammen mit seiner Schwester Maria del Carmen die erste Spinnmaschine für Seide entwickelt und der Wirtschaftlichen Gesellschaft von La Laguna präsentiert. Sein Ideenreichtum und seine klare Neigung zu experimentellen Wissenschaften zeigte sich schon in jungen Jahren. Als 11-jähriger organisierte er schon eine Beobachtung des Durchgangs der Venus vor der Sonne, ebenfalls in Anwesenheit des illustren Herrn Viera y Clavijo.



Das familiäre Umfeld von Agustín de Betancourt war ausschlaggebend dafür, dass er seine wissenschaftlichen Grundkenntnisse erwerben und im Kloster Santo Domingo von La Orotava französisch lernen konnte. Er stammte aus einer der reichsten Familien des Inseladels. Sein Vater war Ritter des Calatrava-Ordens und Kapitän der Provinzmilizen, seine Mutter war die Tochter des Herzogs von Villafuerte. Am 1. Februar 1758 kam er in einem der nobelsten Häuser von Puerto de la Cruz zur Welt, dem heutigen Hotel Monopol. Die Familie hatte neun Kinder und es fehlte nicht an finanziellen Mitteln, um ihrem wissbegierigen Sohn ausschließlich hochrangige Bildungsmöglichkeiten zu bieten.


(Foto: *5)
Das Hotel Monopol, seit 1928 unter Leitung der deutschstämmigen Familie Gleixner, ist ein schöner und preiswerter Ort für einen Aufenthalt mitten in der Altstadt von Puerto de la Cruz. Du kannst es direkt bei Booking.com buchen: Hotel Monopol.
Genau gegenüber des Geburtshauses steht sein Denkmal, das zu seinem 250. Geburtstag im Jahr 2008 eingeweiht wurde. In den Sockel eingeritzt sieht man eine Zeichnung einer seiner Maschinen. Damals reiste sogar extra eine Delegation aus St.Petersburg an. Beim Akt der Ernennung zum Ehrenbürger, 10 Jahre später, hob Lope Afonso, Bürgermeister von Puerto de la Cruz, hervor, dass die Stadt nun „eine lange ausstehende Schuld“ beglichen habe.





Der Künstler Gotzon Cañada hat bereits 2008 eine Büste von Agustín de Betancourt geschaffen, die heute im Museo de la Ciencia y del Cosmos in La Laguna steht. Sie zeigt harte Linien als Zeichen für seine Kraft und einen offenen Kopf als Symbol für freie Gedanken.
Unbestritten ist Agustín José Pedro del Carmen Domingo de Candelaria de Betancourt y Molina der Vater aller Ingenieure.
Bleibt noch zu erwähnen, dass seine Schwester Maria ebenfalls wissenschaftlich tätig war, ihre „Abhandlung über die Gewinnung von purpurroter Farbe“ war der erste wissenschaftliche Aufsatz einer Frau auf den Kanarischen Inseln überhaupt.


Selbst in St. Petersburg denkt man heute noch an ihn. Am Vorabend der Fußballweltmeisterschaft, am 3. April 2018, wurde eine moderne Brücke auf seinen Namen getauft.
Vielleicht dachte Gorbatschow bei seinem Besuch in Spanien, dass der gute Agustín de Betancourt in seinem Heimatland ein Held sein würde, ohne zu wissen, dass er einer der ersten Wissenschaftler war, der das Land der Stiere verließ, und damit ein Prozess begann, den wir heute Talentabwanderung nennen. Höchste Zeit, ihn in seiner Heimat entsprechend zu ehren.
Das Museo de la Ciencia y el Cosmos in La Laguna hat 2011 einen Comic herausgegeben, in dem man das Leben von Agustín de Betancourt verfolgen kann: https://www.museosdetenerife.org/assets/downloads/publication-3340599b53.pdf
Auf dem Platz vor diesem Museum, der seinen Namen trägt, gibt es eine Bronzebüste von ihm. Wer daran vorbei geht, bekommt eine persönliche Ansprache! Lies dazu den Artikel Unterhaltsames Wissen.



Fotos:
*1) wikipedia, *2) fundacionpushkin.org, 3) cienciacanaria.es, *4) irreductible.wordpress.com, *5) fotosantiguascanarias.org
Mehr über berühmte Menschen aus Teneriffa findest du auf der Seite PERSÖNLICHES.
Artikel-Nr. 23-8-140
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