Ein Dorf und seine Identität

Dieses Dorf ist ein stiller Ort an der Ostküste, dessen Namen man nur kennt, weil es eine Autobahnausfahrt gibt, Salida 35. Wer hier aus Versehen abfährt, kommt in ein kleines Fischerdorf. Fischer gibt es dort nicht mehr viele. Und auch sonst gibt es nicht viel zu sehen. So unbedeutend wie heute war Las Eras früher aber nicht, es hat durchaus einiges zu erzählen.

Las Eras ist ein staubiges, langweiliges und windiges Nest am Ausgang des Barranco de la Linde. Es hat einen kleinen Sandstrand und einen kurzen Spazierweg am Wasser. Ein Restaurant oder wenigstens ein gemütliches Café sucht man hier aber vergebens. Am Wochenende kommen ein paar Besucher in den Ort und an den Strand. Auch Taucher finden vor den Felsen ein interessantes Revier. In der einzigen Bar auf der Plaza sitzen ein paar Männer im Schatten beim Domino, so ziemlich die einzige Unterhaltung am Ort.





Las Eras ist ein zweigeteiltes Dorf. Schon vor der spanischen Eroberung verlief die Grenze zweier Guanchen-Provinzen durch den Barranco de la Linde („linde“ = Grenze), im 17. Jahrhundert war dieser die Grenze zwischen den Gemeinden Güímar und Vilaflor. Heute gehört der nördliche und größere Teil zum Municipio von Fasnia, dort gibt es wenigstens noch asphaltierte Straßen und Bürgersteige. Auf der anderen Seite der „Grenze“ findet man drei parallele Wege zwischen den einzeln stehenden Häusern, steinig und staubig, mit vielen Baulücken oder halb fertigen Wohnhäusern dazwischen. Hier ist der „Wilde Osten“ Teneriffas. Es ist das abgelegenste Dorf im Municipio von Arico, und da Arico nicht gerade eine reiche Gemeinde ist, bleibt Las Eras de Arico ein armseliger Flecken mit vielleicht den billigsten Baugrundstücken der Insel. Doch wer will wirklich hier wohnen?





Las Eras hat heute etwas mehr als 300 Einwohnern Die Einwohnerzahl hat erstaunlicherweise in den letzten zehn Jahren leicht zugenommen. Viele Menschen aus den höher gelegenen Dörfern sind herunter an die Küste gezogen – eigentlich aber nicht an die Küste, sondern an die Autobahn, wegen der besseren Verkehrsverbindungen! Oberhalb der Straße, die von der Autobahn herunter kommt, gibt es auch ein kleines Neubaugebiet mit Einfamilienhäusern, aber der Traum vom Wohnen ist das nicht. Alles ist sauber, auch die Plaza mit der modernen Kirche, doch es ist heiß und staubig hier im Wilden Osten.


Las Eras sollte eigentlich gar nicht so heißen. Eine „Era“ ist ein Dreschplatz, eine Tenne. Man findet solche Dreschplätze überall auf der Insel in den Gegenden, wo in früheren Zeiten Getreide angebaut wurde. Sie sind rund und mit Steinen ausgelegt. Dort hat man die geernteten Getreidehalme angelegt und Kühe oder Pferde im Kreis herumgetrieben. Sie zogen eine Art Schlitten, mit dem das Getreide gedroschen wurde. Bei manchen Dorffesten wird das Dreschen heute noch vorgeführt. Schau dazu das Video an:
Die Weizen- oder Gerstenfelder wurden von den Bauern in mühseliger Arbeit zwischen den Terrassenfeldern dort gebaut, wo das Getreide wuchs, in 500 bis 1000m Meereshöhe. Las Eras ist aber ein Fischerdorf an der Küste. Hier gibt es keinen einzigen Dreschplatz. Warum auch? Es ist richtig, dass die Bauern ihr bereits gedroschenes Getreide hier herunter an die Küste transportierten, um es mit Booten nach Candelaria oder Santa Cruz bringen zu lassen. Aber es hätte keinen Sinn gemacht, die Ähren mitsamt den Tieren hier an die Küste zu bringen, um das Getreide hier zu dreschen, und das Stroh nachher wieder mit in die Berge zu nehmen. Wie kommt das Dorf nun zu seinem Namen? Die Herkunft vom Wort „era“ ist sehr unwahrscheinlich.
Ein anderes Wort klingt so ähnlich, und die Herkunft davon ist könnte schon eher zutreffen. Es existiert ein Begriff „eres“, der für kleine Ansammlungen von Wasser steht. Man könnte sie als die Tümpel definieren, die sich in den Felsen der Flussbetten in den Schluchten bilden und in denen das Regenwasser stehen bleibt. Sie können natürlich entstanden sein, dadurch dass das fließende Wasser oder kleine Wasserfälle Vertiefungen im Tosca-Gestein ausgespült haben. Dieses Vulkangestein, das aus der Verfestigung von Asche entstanden ist, lässt sich leicht bearbeiten, und so könnten die „eres“ auch vom Menschen angelegt sein. Sie ermöglichten eine saisonale Nutzung zum Tränken des Viehs und zur Versorgung mit Wasser. Jedenfalls wussten schon die Ziegenhirten der Ureinwohner, dass sie zu den „eres“ gehen mussten, um Wasser zu finden.


Doch das Wort ist männlich, und dann müsste es Los Eres heißen, und nicht Las Eras.
Es könnte aber auch sein, dass es sich einfach um einen Rechtschreibfehler handelt. Das Wort „cera“ bedeutet Wachs, und im Plural kann aus Las Ceras schnell Las Eras werden, weil man das C nicht hört. Sogar auf Google Earth ist der Barranco de la Linde als „Barranco de las Vigas o de Cera“ eingetragen. Handelt es sich bei „cera“ vielleicht um Bienenwachs?

Man weiß, dass die Guanchen schon kleine, dicke Kerzen hatten, die sie bei Opferriten an der Küste aufstellten, aber es gibt keine Hinweise darauf, dass diese aus Bienenwachs waren. Auch in Überlieferungen und Erzählungen aus der näheren Vergangenheit ist darüber nichts bekannt. Ganz in der Nähe von Las Eras gibt es einen wilden, steinigen Strand namens Las Ceras, doch es ist unwahrscheinlich, dass es dort, wo kaum Blüten zu finden sind, einmal viele Bienen gab.
Es gibt sogar in einer historischen Schrift von 1552 einen Eintrag über den „Puerto de la Cera“, der sicher keine Verwechslung mit den „eres“ ist. Fray Alonso de Espinosa schreibt 1595 über Las Ceras, und der Pater von Arico im Jahr 1793 ebenfalls.

Das Wachs kam aus dem Meer! Segler verwenden häufig „cera marina“ zum Versiegeln der Fugen am Boot. Das wird heute natürlich synthetisch hergestellt. Aber der Ursprung liegt in der Natur. Es handelt sich um das graue Ambra oder Amber, eine wachsartige Substanz aus dem Verdauungstrakt von Pottwalen. Dort werden unverdauliche Teile von Beutetieren wie Schnäbel oder Hornkiefer von Tintenfischen und Kraken in Ambra eingebettet. Dieses wird von den Walen wieder erbrochen. Es können auch riesige Brocken von bis zu 400kg Gewicht sein, dies führt dann nicht selten zu Darmverschluss, an dem die Wale sterben.
Die Herkunft von Ambra aus dem Magen von Walen kannte bereits Marco Polo. Er berichtete, dass die Bewohner der Insel Sokotra vor dem Horn von Afrika mit großen Mengen Ambra handelten. Laut seinem Bericht zogen sie die Kadaver von verendeten Walen an Land, um Ambra aus dem Magen zu holen.

Ambra ist mit einer Dichte von 08-0,9 g/cm3 leichter als Wasser und treibt in Klumpen an der Oberfläche. Es hat einen Schmelzpunkt von 60ºC. Besonders an flachen Stränden zwischen Felsvorsprüngen können diese Klumpen dann durch die Strömung ans Ufer gespült werden. Die alten Leute im Dorf wissen es noch gut, und Pater Agustín Rodríguez Díaz erzählte in einem Interview: „Früher gingen wir mit Säcken zur Playa de las Ceras und suchten die Wachsklumpen. Manche waren bis zu 10kg schwer. Wir erwärmten es vorsichtig und formten dicke, niedrige Kerzen. Den Docht legten wir schräg, fast horizontal in das Wachs, damit es länger brennt.“ Offenbar hat sich die Technik der Kerzenherstellung aus „Meereswachs“ über die Jahrhunderte seit der Guanchenzeit erhalten.
Doch Pottwale und damit die nützlichen Wachsklumpen werden immer seltener. Männer, die sie sammeln, auch. Und den „Traumstrand mit feinem Sand“ gibt es auch nicht mehr, seitdem wenige Meter oberhalb die Autobahn verläuft.

Im Jahr 1987 wurden alle Ortsnamen auf Teneriffa festgeschrieben. Irgendjemand hat Las Ceras so geschrieben, wie er es hörte. So wurde das Dorf aus Versehen in Las Eras umbenannt. Niemand hat damals protestiert, vielleicht hat es auch einfach niemand bemerkt.
Den Irrtum wieder rückgängig zu machen, ist fast unmöglich. Nicht nur die Schilder an der Autobahn oder die Busfahrpläne müssten geändert werden, auch Grundbucheinträge, Lizenzen, Urteile oder Bodennutzungspläne. Zu viel Aufwand für die Verwaltungen, die wahrlich wichtigeres zu tun haben. So verschwinden im Laufe der Zeit wertvolle Informationen aus der Vergangenheit.
Der benachbarte Strand, El Bonito, bewahrt ebenfalls einen Namen, der heute nicht mehr nachvollziehbar ist. Der Bonito ist eine Thunfisch-Art. Er konnte früher hier vor der Küste in großer Zahl gefangen werden. Aber leider ist er selten geworden, ebenso wie die Fischer.



Wer sucht, der findet sie noch, die Fischer. Es gibt nämlich doch ein einziges Restaurant im Dorf. „Die Ecke vom Fisch und der Freundschaft“. Es liegt im südlichen Ortsteil, in einer der staubigen Straßen. Dort gibt es tatsächlich frisch gefangene Muränen, Kraken, Lapas, Samas oder Viejas, traditionell und einfach zubereitet, passend zum Wilden Osten.


Gehe zu Google Map:
Von Las Eras aus kannst du eine interessante Wanderung durch den Barranco de la Linde (oder Barranco de la Cera) machen. Sie führt zum größten Felsbogen der Insel: Hart wie Stein.
Und nördlich von Las Eras liegt ein geschützter Küstenabschnitt, La Hondura. Eine Miniaturausgabe der Los Gigantes: An der Kante.
Artikel-Nr. 10-3-203
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